XII Ausgabe - Theater und Mannigfaltigkeit
In einer Welt, die heute vorwiegend von den Expansionsstrategien der Globalisierung und von aggressiven unternehmerischen Praktiken geformt wird, ist vielen noch nicht klar, inwieweit diese jüngsten Entwicklungen einen postkolonialen und postnationalen Übergang darstellen oder einfach eine Entwicklung, die der Diskussion über Koexistenz durch das Tolerieren der Unterschiede Platz einräumen wird, auch wenn sie im Grunde genommen den dominierenden politischen und finanziellen Status Quo verteidigt. Was auch immer die Antwort ist, eines ist gewiss: das Theater als integrierender Bestandteil der gesellschaftlichen und ökonomischen Realität kann gar nicht verhindern, von diesen Entwicklungen beeinflusst zu werden, und zwar sowohl auf der ideologischen als auch auf der ästhetischen Ebene. Wenn man die einhüllenden Mechanismen des späten Kapitalismus in Betracht zieht, gibt es da überhaupt noch Raum für ein Theater der Mannigfaltigkeit und der Abweichung, um zu wachsen und zu überleben? Was kann oder muss die Kunst von Dionysos (oder die Kunst der Theaterkritik, insofern sie in Erwägung gezogen wird) für eine wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit tun, die scheinbar homogen ist, jedoch insgeheim diversifiziert, wie wir sie in unserem postmodernen Europa erleben, das aus unterschiedlichen Nationen, Sprachen und Religionen besteht? Wie kann man die Barrieren der Nichtentsprechung zwischen den verschiedenen Zentren der Kultur und den ausgegrenzten Peripherien niederreißen? Wie kann das Theater insgesamt langfristig eine bessere Demokratisierung der Nationen und eine weitere Verstärkung der Verteidigung der Menschen gegen Rassismus und Ungleichheit ermöglichen?
Prof. Savas Patsalidis, Aristoteles–Universität Thessaloniki
Vereinigung der griechischen Theater- und Musikkritiker