VII Ausgabe - Begründung
PINA BAUSH
Seit Pina Bausch vor einem Vierteljahrhundert die Leitung des Wuppertaler Tanztheaters übernahm, hat sie, die ja selbst vom Klassischen Ballett herkommt, buchstäblich ein Genre erfunden, das mit seiner Kombination aus Prosa, Tanz, Musik und Bildenden Künsten, wo Partitur und Improvisation sich ergänzen, dem Traum vom alles umfassenden Theater nahe kommt und jeder Einzelne innerhalb des außergewöhnlichen Ensembles wird einem genau umrissenen Begriff von Zeit und Raum gegenübergestellt. Dabei kommen Montageteile von Strawinsky und Bartók heraus, Rekonstruktionen von Shakespeare oder Brecht, also Stücke zu einem Thema - eine Wiederkehr, ein Tanz, ein Abschied, eine Stadt - vorgestellt als Kinder- oder Gesellschaftsspiele und orchestriert wie Revuenummern, die im Alltagsleben dieser Tänzer herumstöbern, die ihrerseits so tun, als hätten sie aufgehört zu tanzen, sich dabei aber mondänen und öffentlichen Ermittlungen unterziehen und sich ständig zitierend dem freien Gedankenfluß hingeben, ohne dabei einen psychoanalytischen Striptease ausschließen.
Die wahrhaft große Meisterin Pina Bausch, die nicht vergißt, daß sie in einem visionären Film Fellinis eine blinde Prinzessin gespielt hat, erlegt ihren Schauspielern in diesen Gemeinschaftsarbeiten eine Rolle und ein Zeremoniell auf, in denen heterogene Autobiographien durch den ihnen eigenen Kosmopolitismus mit genau umrissenen Geometrien rhythmischer Bewegungen zusammenfließen. Auch wenn immer neue Motive auftauchen, von Tieren bis zu Pflanzen, so geht jedes Stück im darauffolgenden weiter, um Teil des einzigen großen, ideellen Schauspiels von Pina Bausch zu werden, oder anders gesagt, das Stück wird zum Ritus, und erzählt die Geschichte dieser Gruppe, die im freudigen Verkleidungsspiel und der Einsamkeit des Zusammenlebens sich selbst dargestellt. Doch hinter dem oft so qualvollen Glanz der Bilder, hinter der Verführungskraft der katzenartig und unabwendbar im Gänsemarsch voranschreitenden Truppe und hinter der Handlung in deutlich skandierten und auf äußerst kluge Weise nicht aufeinander abgestimmten Bewegungen erscheint eine Selbstdarstellung, die so lang ist, wie ein ganzes Leben, mit der die große Künstlerin jedem Zuschauer einen ironischen und zugleich verzweifelten Spiegel vorhält, in dem seine Daseinsbedingungen reflektiert werden.
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ROYAL COURT
Wem verdankt das moderne britische Theater seinen Ruf? Seinen Schauspielern? Sicher. Seinen Regisseuren? Vielleicht. Doch das Hauptmerkmal der Vitalität des britischen Theaters sind seine Autoren, und das Royal Court Theatre, Gewinner des Premio Europa Nuove Realtà Teatrali, hat wie kein anderes die jüngeren Werke gefördert. Seit 1956 hat es die Arbeiten vieler der bekannteren britischen Autoren auf die Bühne gebracht: Osborne, Wesker, Pinter, Bond, Barker, Hare und Churchill. Und doch wird mit dem Premio nicht der historische Werdegang des Royal Court Theatre honoriert, sondern sein Engagement in den letzten Jahren für eine neue Generation von Schriftstellern, die uns mitreißen und des öfteren auch tief erschüttern und deren Werke in ganz Europa in Umlauf sind: unter anderen Sarah Kane (Blasted und Cleansed), Mark Ravenhill (Shopping and Fucking) und Jez Butterworth (Mojo). Ganz deutlich geben sie ihrem Schauder vor der moralischen Leere und dem rohen Materialismus dieser Welt, die sie geerbt haben, Ausdruck. Ihre Texte sind voller gewalttätiger Bilder, doch spürt man hinter dieser Gewalt ihre Wut und die Verwirrung darüber, in einer postmarxistischen, postchristlichen und postutopischen Gesellschaft zu leben. Auf Grund von Restaurierungsarbeiten, mußte das Royal Court 1996 seinen ständigen Sitz am Sloane Square in London verlassen, und hat dann in zwei Theatern im West End weitergemacht, ohne dabei etwas von seiner Risikobereitschaft und seinem Dynamismus zu verlieren. Zuerst unter der Leitung von Stephen Daldry und nun von Ian Rickson inszenierte das Theater Kooperationen in Zusammenarbeit mit verschiedenen Ensembles, wie z. B. Out of Joint oder dem Théâtre de Complicité (u.a. die wunderbare Neuauflage von Ionescos Die Stühle). Es wurden auch bemerkenswerte Stücke junger Iren, wie Conor McPherson und Martin McDonagh gezeigt. Außerdem lancierte es ein internationales Austauschprogramm mit anderen Theatern in der ganzen Welt. Aber vor allem hat es einer neuen Generation junger Schriftsteller Gehör verschafft, deren moralinsaure Wut und urbane Verzweiflung zusammen mit politischer Enttäuschung in ganz Europa auf großen Widerhall gestoßen sind.
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THÉÂTRE DE COMPLICITÉ
Das Théâtre de Complicité wurde 1983 gegründetund isteines der originellsten und erfindungsreichsten Theaterensembles Englands. Es wurde von vier jungen Leuten gegründet, deren ZieI es war, in dos englische Theater, das sich vorwiegend an den Text hielt, jene körperlichen Ausdruckskräfte einzubringen,, die sie an der Pantomimenschule Jacques Lecoq in Paris gelernt hatten. In den dreizehniahren seit seiner Gründung hat das Ensemble nicht nur internationalen Ruhm etworben, es ist auch organisch gewachsen. Heute vereint es eine geschickte Pantomimik mit der Erkundung umfassender Iiterarisdier Texte. Es hat seinen eigenen brillante und nicht wiederholbaren Stil entwckelt, weshalb es mit Recht den Preis Neue Realität des Theaters in Taormina erhält. Seme Gründungsmitglieder waren Simon McBumey, Marcello Magni, Fiona Gordon, die zusammen in Paris siudiert hatten undAnnabelArden, die mit Simon einen Kurs an der Universität in Cambridge besucht hatte. Ihre erste Produktion, Put It on Your Head, die in einem englischen Badeort spielt, ist mit einer finsteren Komik durchzogen und hatnur wenig Aufrnerksamkeiterregt. Dann folgten einige Schauspiele, die Argumente behandeln, wie unsere Einstellung zum Tod, zum Essen, zum Weihnachtsfest, zum Büroleben. Nach und nach schaffte sich Complicité Anhänger wegen seiner Originalität, wegen seiner Komödien, die ins Groteske gehen und wegen seiner außergewöhnlichen Pantomimik. Aber erst Im Jahr 1988 gelingt der große Durchbruch, als Cormplicité 15 Wochen eine Arbeit im Almeida Theatre in London aufführte, die zum ersten Mal auf einem bereits existierenden Theatertext beruhte, ihre Version von The Visit von Dürrenmatt. Dabei gibt es eine außerordentliche Interpretation von Kathiyn Hunter in der Rolle einer schwerreichen Frau, die sich rächt und die Pantomime vetwendet, um die Atmosphäre einer kleinen, trostlosen europäischen Stadt zu schaffen. Peter Brook, der das Schauspiel sah, hielt es für beser als jene Ausgabe, die er Ende der fünfziger Jahre geschaffen hatte. Von da an wurde Complicité eine der meist gefragtesten , internationalen Wanderbühnen und hat zahlreiche Bearbeitungen literarischer Texte inszeniert, darunter Sfreet of Crocodiles von Bruno Schulz, The Three Lives of Lucie Cabrol von John Berger und Foe von J.M. Goetzee. Die reiche Auswahl ihrer Interpretotionen und stilistischen Variationen ist jedoch nicht zuungunsten ihres lnstinkts für das Experimentieren und die körperliche Disziplin. Complicité zeigt vor allem eine außergewöhnliche Fähigkeit ganze Gemeinden neu zu bilden, wie zum Beispiel eine kleine polnische Stadt in Street of Crocodiles und einen Bauerndorf in den Hautes -Alpes in Lucie Cabrol. Zur Zeit arbeitet Complicité an einer Coproduktion des Der kaukasische Kreidekreis von Brecht mit dem britischen National Theater. Aufjeden Fall ist Complicité eines der kühnsten und wirklich experimentellsten Ensembles, die heute in Europa arbeiten.
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